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Was hält Menschen gesund?

Das KonzePt der Salutogenese nach Aaron Antonowsky

Dauerhafte psychosoziale Belastungen, seelischer Stress und überwältigende Anforderungen haben ein hohes Potenzial, die seelische Gesundheit zu gefährden und krank zu machen. Die aktuelle Corona-Pandemie stellt an alle Menschen die Herausforderung, sich anzupassen, Einschränkungen anzunehmen und für sich ein stimmiges Narrativ der aktuellen Lebensumstände zu entwickeln. Nicht jedem geling diese gleich gut.

 

Für eine Perspektiverweiterung auf die eigenen Umstände, aber auch als Ergänzung zur Arbeit mit Kindern und ihren psychisch erkrankten Eltern und allen Familien, die dieser Tage unter Druck geraten, möchte ich das Modell der Salutogense hervorholen. Es stammt vom Medizinsoziologen Aaron Antonowsky und wurde Ende der 70er und in den 80er Jahren veröffentlicht (BzGA 2001).

Salutogenese ist ein prozessorientiertes Konzept. Es ...

  • richtet den Blick auf Gesundheit und die Steigerung des Wohlbefindens.
  • inkludiert die Anwesenheit von Gesundheit und Krankheit zu verschieden großen Anteilen.
  • rückt den Einzelnen und seine Bewältigungsmechanismen in den Fokus.
  • fragt nach der individuellen Sinnhaftigkeit für die aktuellen Umstände.
  • gilt für kleine und große Leute.
  • bietet vielfältige Ansätze für Prävention, Begleitung und Hilfe.

Antonovsky geht den Fragen nach, warum Menschen – trotz vieler potenzieller gesundheitsgefährdender Faktoren – gesund bleiben. Wie schaffen sie es, sich von Erkrankungen wieder zu erholen? Was ist das Besondere an Menschen, die trotz extremster Belastungen nicht krank werden? (BzGA 2001)

 

Seine Grundannahme ist, dass Gesundheit kein normaler, passiver Gleichgewichtszustand, sondern ein labiles, aktives und sich dynamisch regulierendes Geschehen ist. Der Mensch neigt eher zu Unordnung, Leid, Ungleichgewicht und Chaos (= Kraft der Entropie). Von daher ist das Streben nach Gesundheit ein fortwährender Prozess, der mit Ordnung, Struktur und Rahmung einhergeht. Gesundheit muss immer wieder aufgebaut werden, ihr Verlust ist aber als ein natürlicher und allgegenwärtiger Prozess anzusehen, der in Wechselwirkungen der Person und ihrer Umwelt geschieht (BzGA 2001). Jedes Individuum pendelt also zwischen den Polen Gesundheit/ körperlichem Wohlbefinden und Krankheit/ körperlichem Unwohlsein hin und her und hat dabei immer größere oder kleinere Anteile beider Verfassungen in sich.

 

In der salutogenetischen Betrachtung geht es um Stärken und Ressourcen in allen Lebensbezügen, darum, widerstandsfähiger zu werden und mehr Genesung zu erlangen. Diese ganzheitliche Ressourcenperspektive birgt vielfältige Anknüpfungspunkte. Es sollen Talente, Stärken, gute Erfahrungen und Kenntnisse erlangt werden, die die persönlichen Möglichkeiten erweitern, zu Wohlbefinden führen und langfristig auch zu Gesundheit beitragen (BzGA 2001). Zentrale Fragen für die Arbeit sind „Was tut mir gut? Was ist mir wichtig? Was fühlt sich für mich stimmig an? Wohin möchte ich?“ (Klüpfel 2021)

 

Antonowsky entwickelte für die Beschreibung dieses Selbstregulationsvermögens den Begriff des Kohärenzgefühls. Es bezeichnet die „Stimmigkeit der Dinge“, die eine Person für sich definiert, also eine individuelle Grundeinstellung gegenüber der Welt und dem eigenen Leben.

 

Das Kohärenzgefühl setzt sich aus 3 Parametern zusammen (vgl. BzGA 2001):

  • Dem Gefühl der Verstehbarkeit: Die Erwartung und Fähigkeiten eines Menschen, Stimuli (Eindrücke) als geordnete, konsistente und strukturierte Informationen erfassen zu können. Reize werden nicht als chaotisch, unkontrollierbar, willkürlich und zufällig erlebt. Die Welt ist auf kognitiver Ebene „verstehbar“.
  • Dem Gefühl der Handhabbarkeit/ Bewältigbarkeit: Beschreibt die Überzeugung eines Menschen, das Schwierigkeiten lösbar sind. „Das Ausmaß, in dem man wahrnimmt, dass man geeignete Ressourcen zur Verfügung hat, um den Anforderungen zu begegnen“. Hierzu gehören nicht nur konkrete Ressourcen, sondern auch der Glaube an das Gelingen und die Überwindung von Schwierigkeiten.
  • Das Gefühl der Sinnhaftigkeit/ Bedeutsamkeit: Dieser Bereich spricht die Grundmotivation an, dass es sich lohnt, sich für etwas einzusetzen oder sich für etwas zu engagieren. Probleme und Anforderungen werden als wertvoll und lohnenswert angesehen. Hierhin geht Energie. Wenn alles sinnlos und leer ist, dann wird es als lästig und quälend erlebt.

Entscheidend für die Ausprägung des Kohärenzsinns sind die generalisierten Widerstandsressourcen, welche sowohl in der Person, ihrer direkten Umgebung, ihren Gruppen (z. B. Klasse, Team, Verein), ihrer Kultur, Religion bis zur ganzen Gesellschaft reichen und physische, biochemische, psychische, kognitive oder materielle Aspekte betreffen (Lindström, Eriksson 2019). Konzepte der Prävention für den Einzelnen und für die Community, für Berufs- und Altersgruppen oder Quartiere schließen hier an. Auch die Ottawa-Charta fußt auf diesem Grundsatz. Modelle von Schutz- und Risikofaktoren, Coping und Lebensqualität können mit der Salutogenese in Verbindung gebracht werden. In ihr liegt auch ein großes Potenzial für Nachhaltigkeit.

 

Vielfältige Studien verweisen darauf, dass ein hoch ausgeprägter Kohärenzsinn Menschen besser mit Langzeitbelastungen umgehen lässt (Meier Magistretti 2019) und sich auch mit dem Alter weiterentwickelt (Lindström, Eriksson 2019).

Besonders für Kinder ist es wichtig, schon in frühen Jahren einen Kohärenzsinn zu entwickeln, also Situationen zu erleben, welche die Gefühle von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit ermöglichen. Idan und Kolleg*innen weisen auf diese wichtige Entwicklungserfahrung von Kindern und Jugendlichen hin (Idan et al. 2019). Alle Menschen, die mit Heranwachsenden arbeiten, haben vielfältige Gestaltungsoptionen für Selbstwahrnehmung, Zugehörigkeit, Gelingen, Beteiligung, Autonomie, Machbarkeit oder Verlässlichkeit. Ebenso wie Erfahrungen in Kita, Schule und Freizeit sind die innerfamiliären Merkmale der Kohärenz bedeutsam für die Entwicklung des Kohärenzgefühls des Kindes. Eltern mit einem höheren Kohärenzsinn können ihren Kindern mehr Stärke und Zuversicht vermitteln als Eltern mit einem niedrigeren Wert. Ebenso sind ihnen gesundheitsfördernde Verhaltensweisen leichter abruf- und vermittelbar. Eine besondere Herausforderung ist dabei auch, wie das Wohlbefinden der Erwachsenen durch das Verhalten und die Entwicklung des Kindes beeinflusst wird, also z. B. durch einen höheren Pflege- und Versorgungsaufwand, Sorgen um das Gedeihen und schwankende Gesundheit – wie es bei Kindern mit Entwicklungsstörungen oder schweren Erkrankungen sein kann (Idan et al. 2019).

Insgesamt kann gesagt werden, dass Menschen mit einem hohen Kohärenzgefühl sich bewusster und gezielter für gesundheitsförderliche Verhaltensweisen (gesunde Ernährung, Bewegung, Schlaf, zum Arzt gehen ...) entscheiden können und gesundheitsgefährdendes Verhalten vermeiden (BzGA 2001).

 

Die Stärkung der Gefühle von Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und damit Sinnhaftigkeit können in herausfordernden Lebensumständen ein wichtiger Beitrag sein, um gesünder zu bleiben oder zu werden.

Quellen:

BzGA (2001): Was hält den Menschen gesund? Antonovskys Modell der Salutogenese. Köln. 

Idan, o. Et al. (2019): Salutogenese: der Kohärenzsinn in der Kindheit und Familie. IN: Meier Magistretti, C. (Hrsg) (2019):

Salutogenese kennen und verstehen. Hogrefe. Bern. S.189-198.

Klüpfel, A. (2021): Stressregulationstraining. Flyer zum Kurs. 

Lindström, B, Eriksson, E. (2019): Von der Anatomie der Gesundheit zur Architektur des Lebens - Salutogene Wege in der

Gesundheit. IN: Meier Magistretti, C. (Hrsg) (2019): Salutogenese kennen und verstehen. Hogrefe. Bern. S.25-107

Meier Magistretti, C. (Hrsg) (2019): Salutogenese kennen und verstehen. Hogrefe. Bern.

 

Anmerkung:

Dieser Artikel ist identisch bei A: aufklaren | Expertise und Netzwerk Kinder psychisch erkrankter Eltern | erschienen, Newsletter N° 15 vom 13.1.2021, hier ansehen